Nehmen wir uns die Stadt zurück!

Der Aufruf von „Reclaim Tempelhof“ zur Öffnung des Tempelhofer Feldes am 8. Mai in der langen, ausführlichen Fassung:

RECLAIM TEMPELHOF

8. Mai 2010: Nehmen wir uns die Stadt zurück?!

Am 8. Mai 2010 soll das Tempelhofer Feld unter dem schönen Motto „Bewegungsfreiheit“ durch den Berliner Senat eröffnet werden. Dieser längst überfällige Schritt erfreut zunächst. Allerdings wird durch die Pläne des Senats weder Bewegungsfreiheit noch, wie von diesem oftmals suggeriert, ein Freiraum, gestaltet durch die Anwohner_innen, geschaffen. Stattdessen soll, designed von dem senatseigenen Unternehmen „Grün Berlin GmbH“, ein Park mit Öffnungszeiten und nächtlicher Schließung, Parkordnung, Wachschutz, umringt von Stacheldraht und Sicherheitszaun mit 5 Toren als Ein- und Ausgang, installiert werden. Abgeschottet wird dieser Hochsicherheitspark dem Flächennutzungsplan zufolge von privaten Luxus- und Eigentumswohnungen, was hohe Profite für wenige verspricht und steigende Mieten sowie Verdrängung für viele bedeutet.

An dem Tag ist ebenfalls der 65. Jahrestag der Befreiung von Nazideutschland, allemal ein Grund zum Feiern. Zu Erinnern gilt es aber auch des Konzentrationslagers Columbia-Haus und der Rolle des Flughafens während des Zweiten Weltkrieges. Warum zur Eröffnung ausgerechnet der 8.Mai ausgewählt wurde und dadurch einer weiteren Geschichtsglättung Vorschub geleistet wird, diese Frage lässt der Senat unbeantwortet.

Unzählige Menschen protestierten in den letzten Jahren, bspw. bei der versuchten Besetzung des ehemaligen Flughafengeländes Tempelhof am 20.Juni 2009, für ein schönes, selbstbestimmtes Leben für Alle und gegen eine Stadtumstrukturierung, deren oberstes Prinzip der Profit ist. Anscheinend war das, wie es die Pläne des Senats für das Tempelhofer Feld und Umgebung deutlich machen, noch nicht ausreichend. Deshalb kommt und beteiligt euch alle am 8. Mai am Aktionstag: „Reclaim Tempelhof!Nehmen wir uns die Stadt zurück?!“

Durch bunten und vielfältigen Protest, wie etwa Zaunspaziergänge und Picknicks am Tempelhof-Gelände, Zaunattacken von wütenden Anwohner_innen, Informationsveranstaltungen, Kunstinstallationen, Flugblätter, Demonstrationen und weiteren kreativen Aktionen wurde im letzen Jahr unter anderem erwirkt, dass die Parteien und die Verantwortlichen in der Politik Stellung beziehen mussten und eine schnelle Eröffnung des Tempelhofer Feldes versprachen. So ließ der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) in der rbb Abendschau am 18.07.2009 verlauten: „Um den Menschen dort Raum zu geben, damit sie da grillen können, damit sie da Fußball spielen können [?]sind kreative Ideen gefragt, um auch die Anwohnerschaft teilhaben zu lassen. Sonst wird eines passieren; irgendwann werden die Menschen den Zaun aufschneiden.“

Doch anstatt das Gelände zu öffnen und uns, Kindern wie Erwerbslosen, Schüler_innen wie alten Menschen, Studierenden wie Flaschensammler_innen und Familien genauso wie Menschen ohne Wohnung die Entwicklung des Freiraums zu überlassen, gibt der Senat diese an Unternehmen wie die Adlershof Projekt GmbH und die Grün Berlin GmbH ab. Letztere hat bereits mehrere exklusive und kostenpflichtige Parklandschaften in Berlin, bspw. den Britzer Garten (2 Euro Eintritt) oder den Garten der Welt im Erholungspark Marzahn (3 Euro Eintritt), kreiert.

An der bisherigen Nutzung des Tempelhofer Feldes, etwa durch die Reichen und Schönen bei der Modemesse Bread and Butter oder durch das zahlungskräftige Publikum der Pyromusikale lässt sich die Stoßrichtung des Berliner Senats erkennen. Im Rahmen der Internationalen Gartenbauausstellung (IGA) und der Internationalen Bauausstellung (IBA) sichert sich Berlin Gelder um den Aufwertungsprozeß beschleunigt vorantreiben zu können. Mit Blick auf den Flächennutzungsplan für Tempelhof und die Ankündigungen des Senates wird deutlich, wie diese Aspekte miteinander verknüpft sind und kommerzielle Interessen das Handeln bestimmen: Errichtet werden soll eine hübsch durchgestylte Parklandschaft (IBA 2017), die durch private Luxus- und Eigentumswohnungen sowie Räume für die Kreativwirtschaft (IBA 2010 -2020) abgeschottet ist. Ergänzt wird diese Entwicklung durch Stadterneuerungsprogramme für die umliegenden Kieze, bspw. bei der Karl-Marx-Straße oder der Schillerpromenade.

Ergebnis dieser Politik ist eine Stadt, die nicht vorrangig als Lebensumfeld für Menschen begriffen wird, sondern als Wirtschaftsstandort, der in globaler Konkurrenz steht und hohe Gewinne für Unternehmen liefern soll. Aus dieser unsozialen Politik resultieren steigende Mieten und eine Verdrängung der in den umliegenden Kiezen lebenden Menschen. Das betrifft sowohl diejenigen, die schon lange dort wohnen und leben, als auch neu Hinzugezogene, die das Neuköllner Stadtbild bereits verändert haben. Dieser Prozess wird Gentrifizierung genannt. Die höheren Mieten zwingen Menschen mit zu geringem Einkommen sowie Empfänger_innen von Hartz IV, ihre gewohnte Umgebung verlassen zu müssen. Die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich trifft einmal mehr die, die sich sowieso schon mit einer weiter verschlechternden Lebensqualität konfrontiert sehen. Andererseits wird durch die Veränderungen, bspw. durch neue Lokalitäten, das Gebiet für Menschen mit höherem Einkommen attraktiver und in der Folge dessen zu schicken Tabu-Zonen für Arme.

Ergänzt wird diese strukturelle Gewalt durch direkte Polizeimaßnahmen sowie verstärkte Kontrolle und Überwachung. So wird versucht, mit Repression gegen Armut vorzugehen und die Betroffenen noch weiter an den Rand zu drängen. Bestes Beispiel dafür ist die Task Force Okerstraße: Sowieso schon marginalisierte Gruppen wie Sinti und Roma als auch Trinker_innen werden schikaniert und aus dem Kiez gedrängt. Armut soll unsichtbar gemacht und stattdessen Platz für reichere Bevölkerungsschichten, Konzerne und Investor_innen geschaffen werden.

Es ist ungewiss, ob es zudem einen Zusammenhang zwischen dem militärischen Begriff „Task Force“ und der Aufführung von Neukölln als exemplarisches Gebiet für einen „Raum begrenzter Staatlichkeit“ in der Studie, die sich eigentlich positivistisch mit der kriegerischen Intervention in Afghanistan auseinander setzt, „Regieren ohne Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit.“ des SFB700 der Freien Universität Berlin gibt. Fakt ist hingegen, dass die Bundeswehr schon jetzt auf dem Tempelhofer Feld baut und bei der Nachnutzung mitredet.

Wir haben nicht vergessen, mit welch martialischen Mitteln Repression durchgesetzt wird. Wie letztes Jahr bei „Squat Tempelhof2 Tausende Menschen von der Nutzung einer leerstehenden Wiese durch massive Polizeigewalt abgehalten wurden und der Berliner Senat dafür eine knappe Million Euro verschleuderte. Das alles verringert nicht unsere Wut. Ganz im Gegenteil werden wir weiterhin entschlossen handeln und dafür sorgen, dass die kapitalistische Maschinerie nicht reibungslos funktioniert und Tempelhof für Alle, ohne Grenzen und Mauern, frei nach dem Motto: Bewegungsfreiheit!, Wirklichkeit wird.

Denn der Prozess rund um das Tempelhofer Feld kann nicht losgelöst von anderen Entwicklungen in Berlin und anderswo betrachtet werden. Rund um das Mediaspree-Gebiet in Friedrichshain-Kreuzberg gibt es seit Jahren vielfältige Proteste. Auch dieses Jahr rufen die „Spreepirat_innen“ zu einem Aktionstag mit dem Motto „Auf zu neuen Ufern! Mediaspree entern!“ am 5. Juni auf. Immer wieder schließen sich Mieter_innen zusammen und kämpfen gemeinsam gegen Mieterhöhungen, wie z.B. im Kunger-Kiez in Treptow. Darüber hinaus gibt es Stadtteilversammlungen, wie etwa in Nord-Neukölln, in der sich Menschen organisieren und bspw. diskutieren, wie sich gegen Verdrängungseffekte gewehrt werden kann. Ein weiterer Zusammenschluss dieser Art ist die „Wir bleiben Alle“ Kampagne (WBA), die von verschiedenen Hausprojekten und Individuen gestaltet wird und deren Ziel es ist, mehr selbstbestimmte Freiräume zu erkämpfen und Räumungen von Häusern zu verhindern. Unter anderem wird sich dort mit dem Liegenschaftsfond, dessen Aufgabe es ist, staatseigene Grundstücke und Immobilien profitabel zu privatisieren, auseinander gesetzt. Dem Verkauf öffentlicher Gelände soll entgegen getreten und diese stattdessen für alle nutzbar gemacht werden. Überall auf der Welt schließen sich Menschen zusammen, kämpfen kollektiv für eine herrschaftsfreie Gesellschaft und gegen ein System, dessen ausschließliches Ziel die Profitmaximierung ist und in dem vermeintliche Sachzwänge unser Leben bestimmen. Aber die kapitalistische Produktionsweise und Sachzwänge werden nicht nur von Politiker_innen, Unternehmer_innen oder Staatsangestellten produziert und reproduziert. Genauso tragen all jene Menschen ihren Teil zum störungsfreien Ablauf des System bei, die durch ihr alltägliches Funktionieren an diesem unhinterfragt mitwirken. Deshalb ist es bedeutsam, die eigenen Handlungsspielräume wahrzunehmen und sich selbst innerhalb des Ganzen zu positionieren.

Wir wollen anfangen, unsere Wünsche und Vorstellungen für das Tempelhofer Feld zu verwirklichen und die neoliberalen Pläne des Senats praktisch angreifen. Wir wollen eine Grünfläche zum Spazierengehen und Radfahren, zum Entspannen, Kommunizieren, Grillen, Lieben und Lesen, für nächtliche Parties, Veranstaltungen, Kunstprojekte und Jam-Sessions, zum Badminton, Fußball, Basketball und Volleyball spielen, für Bauwagen sowie alternative und kollektive Lebensentwürfe, zum Leben eben. Wir werden das Gelände nicht freiwillig zu einer vorgegebenen Zeit verlassen. Wir werden Politiker_innen bei ihren Selbstdarstellungsshows stören. Wir werden an dem Tag, wie auch in der Zeit davor und danach, den Zaun einreissen. Wir werden das Feld mit Leben, Freude, Zärtlichkeit, Kreativität, Sehnsucht, Wut und Lachen überfluten. Wir werden uns in Workshops kritisch mit verschiedenen Themen auseinander setzen. Wir werden unangemeldet und unkontrolliert unseren Protest äußern. Wir werden einen Freiraum gestalten, in dem Bewegungsfreiheit nicht bloß ein Werbe-Slogan ist. Wir werden uns die Stadt zurück nehmen.
Die Zeit des Forderns ist vorbei. Freiheit entsteht als kämpfende Bewegung.

Haltet euch den 8. Mai 2010 für den Aktionstag frei. Bereitet euch vor und überlegt, wie ihr die Zeit auf (und um) Tempelhof verbringen wollt, insbesondere auch nach den offiziellen Schließzeiten. Bringt eure Ideen mit und setzt sie um. Vergesst nicht, Instrumente, Schlafsäcke, Grills, Zelte, Soundsysteme, Bauwagen, Bolzenschneider, Pflanzen, Materialien zum Basteln und was ihr sonst noch so gebrauchen könnt, mitzubringen. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass unsere Vorstellungen und Wünsche nicht länger eine Utopie bleiben.

Achtet auf weitere Ankündigungen unter tempelhof.blogsport.de

RECLAIM TEMPELHOF! Tempelhof für Alle! Nehmen wir uns die Stadt zurück!

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